Beiträge zu Büchern

Torsten Riesewell, Ines Emptmeyer (Herausgeber)

Hoffnungsträger 

Wahre Geschichten von Menschen, die Hoffnung bringen.


Josi – wo Trauer und Hoffung sich begegnen

von Suse Chmell und Uwe Heimowski

 

Es ist ein trauriger Moment. Ungezählte Tränen fließen an diesem Reformationstag, dem 31.10.2010. Mehr als 200 fassungslose Menschen füllen die Kirche bis zum allerletzten Stehplatz. Die Familie hatte ihre Tochter im kleinsten Kreis beerdigt. In ihrer schwersten Stunde hatten ihnen engste Freunde beigestanden. Heute, bei der Trauerfeier, nehmen Freunde und Nachbarn gemeinsam Abschied. Abschied von Josi.

 

Josi wurde nur 17 Jahre alt. Es ist wohl das Schwerste für uns, einen so jungen Menschen zu beerdigen. Was ist das für ein unsagbares Leid für Eltern, ihre eigenen Kinder beerdigen müssen. Da werden so viele Träume, Wünsche und Hoffnungen zu Grabe getragen. Den Geschwistern wird die Schwester genommen. Der Tod ist schrecklich. Der Tod von jungen Menschen ist doppelt  schlimm.

Josi starb an den Folgen einer schweren Krankheit. Josi, und es war bemerkenswert, wie offen ihr Vater das vor den Trauergästen aussprach, litt an einer psychischen Erkrankung. Sie starb an einer falschen Dosis von Medikamenten, die sie in verwirrtem Zustand geschluckt hatte.

Nach wie vor gilt in Deutschland: man darf sich einen Fuß brechen, aber keinen Nerv. Psychisch kranke Menschen werden schräg angeschaut. Darum kehren wir solche Krankheiten unter den Teppich. Josis Eltern hatten den Mut sich zu ihrer Tochter und zur Krankheit ihrer Tochter zu stellen. Das ist Größe. Und es ist Liebe. Das gibt Hoffnung.

 

Große Sträuße von Sonnenblumen schmücken die Kirche. Josis Lieblingsblumen, und ein Ausdruck der Hoffnung, die in Josi selbst gelebt hat. Denn, und das klingt fast paradox, und doch ist es so: Dieser Reformationstag ist auch ein Tag der Hoffnung.

Diese Trauerfeier ist zugleich eine Hoffnungsfeier.

Alle, die Josi näher kannten, wussten, genau das hätte sie gewollt.  Wir singen viele der Lieder, die sie seit Jahren begleiteten und ihr in schweren Zeiten Halt gegeben hatten. Jeder Trauergast bekommt eine Kerze mit der Jahreslosung von 2011: „Lass Dich nicht vom Bösen überwinden, sondern überwinde das Böse mit Gutem“ Römer 12,23.

Warum dieser Vers? Josi hatte ihn in einem ihrer letzten Briefe zitierte. Er hatte ihr Hoffnung gemacht.

Jugendliche verteilen die Kerzen, und wir entzünden unseren Docht am Docht des Nachbarn. Als ein Zeichen, dass von jedem Menschen Licht in die Dunkelheit gebracht werden kann.

In Josi lebte dieses Licht. Wie kam es dazu?

Wir blicken zurück. Suse Chmell, die Jugendpastorin der Evangelisch-freikirchlichen Gemeinde in Gera, mit der Josi sich lange Briefe schrieb, berichtet:

 

April 2010. Unsere Gemeinde feiert das Einweihungswochenende des Anbaus. Am Samstagabend findet ein Lobpreisgottesdienst statt. Viele Gäste kommen. An diesem Abend begegne ich auch zum ersten Mal Josi. Sie liebte diese Musik.

Josi wurde gerade nach einem 7 monatigen Aufenthalt in der Kinder- und Jugendpsychiatrie aus der Klinik entlassen und suchte Anschluss an eine Jugendgruppe. Wir wechselten kurz ein paar Worte miteinander, und irgendwie spürte ich, dass wir einen Draht zueinander entwickeln könnten. Von da an kam Josi ein paar Mal zur Jugend, wir trafen uns, redeten miteinander.

 

Bei Josi entwickelte sich mit dem beginnenden 16. Lebensjahr eine psychische Störung

bis hin zur schweren Schizophrenie , eine Wahrnehmungsstörung. Besonders litt sie darunter, Stimmen zu hören, die ihr negative Gedanken einflüsterten. Sie bekam  Medikamente, hatte nun aber damit zu kämpfen, dass diese Medikamente ihre Wesensart veränderten. Die Stimmen verstummten zwar, doch ihre Lebensfreude und Energie gingen auch mit verloren. Sie kämpfte mit verschiedenen Therapien, die ihr auch halfen. Aber oft fühlte sie sich nicht verstanden , allein gelassen und einsam. Einsamkeit war wohl die schlimmste Nebenwirkung ihrer Krankheit.

Die Krankheit an sich hinterließ schon viele Spuren und Wunden in ihrer Seele und an ihrem Körper (sie nahm durch die Medikamente stark zu und entwickelte eine Bulimie).

Und dazu kam nun noch diese elende Einsamkeit.

Es ist leider so: Psychisch krank zu sein macht einsam!

Als sie nach dem langem Krankenhausaufenthalt endlich wieder in die „normale“ Schule ging, hoffte sie, dass Leben könnte endlich wieder irgendwie einfach ganz normal von vorne anfangen.

Doch es gelang nicht. Vielleicht wurde sie zu früh entlassen? Nach kurzer Zeit jedenfalls musste sie erneut eingewiesen werden und alles begann wieder von vorn: Therapie, Neueinstellung der Medikamente mit all ihren Nebenwirkungen, das Kämpfen mit den Ängsten...

 

In dieser Zeit schrieben wir uns Briefe, lange Briefe, und ich besuchte sie in der Klinik. Es waren unzählige kostbare Momente, die ich dadurch mit Josi teilen durfte.

Ein Erlebnis wird wohl immer für mich gegenwärtig sein. Josi liebte die Musik. So vieles drückte sie dadurch aus. Ihre Augen begannen zu leuchten, wenn sie von bestimmten Liedern sprach, die ihr etwas bedeuteten, besonders mochte sie die Lieder der „continental singers“. Sie spielte wunderbar Klavier. Doch auf der „geschlossenen Station“ gab es kein Instrument.

Am Ende eines meiner Besuche sagte sie, wie sehr sie ihr Klavierspiel vermisse, und dass es ihr in den Händen kribbelte, endlich wieder spielen zu können. Im Foyer stünde ein Flügel, aber dorthin dürfte sie ja noch nicht gehen. Wir versuchten es einfach. Gemeinsam gingen wir zur Rezeption  und fragten nach dem Schlüssel für den Flügel. Ganz forsch, ohne lange Erklärungen. Und tatsächlich: die Dame war so freundlich uns den Schlüssel zu geben. Josi setzte sich auf die Bank, öffnete behutsam die Klappe zur Tastatur und begann zu spielen. Ihre Finger flogen über sie Tasten. Ihr blasses Gesicht drückte mit einem Male eine Leichtigkeit und eine Freude aus. Schlagartig verwandelte ihre Melodie die Atmosphäre des Krankenhauses. Türen öffneten sich, Patienten kamen aus den Zimmern, wiegten sich in der Melodie und traurige Mienen erhellten sich für ein paar Minuten.

Musik ist Balsam für die Seele.

Josis Musik war noch mehr als nur Musik. Ihre Musik war ein Gebet, ihr Spiel war ein Lobpreis. Mit dem Klavier konnte sie ihrem Glauben eine Stimme geben. Dieser Glaube war für sie der Anker, der ihr neuen Halt inmitten ihrer verzweifelten Situation gab.

 

Wir sprachen viel über Gott und die Welt.

Den christlichen Glauben und viele ihrer Ideale brachte sie aus ihrem Elternhaus und dem Religions- und Konfirmandenunterricht mit.

Josi verehrte Martin Luther. In der Schule beschäftigte sie sich intensiv mit ihm und wünschte, dass auch durch ihr Leben so manche Reform losgetreten werden könnte. Sie schreibt: „Ich habe einen Vortrag über Martin Luther ausgearbeitet - ich habe mich schon länger intensiv mit ihm auseinander gesetzt... ich find ihn richtig toll und ein Stück weit ist er ein Vorbild für mich: das Leben hat diesem Mann auch viele Hürden gestellt.“ Das machte natürlich Mut: zu erkennen, dass auch andere Menschen durch schwere Krisen gegangen sind, und dass selbst ein Martin Luther mit Schicksalsschlägen und depressiven Gedanken zu kämpfen hatte.

 

Josi hatte große Träume und viele Ziele, leidenschaftliche Sehnsüchte loderten in ihr. Sie liebte das Leben und sie liebte die Menschen. Das spürte man ihr ab. Jedes Mal wenn wir zusammen unterwegs waren, war ich erstaunt, wie schnell sie den Menschen in ihr Herz schaute, und wie unvoreingenommen sie ihre Zeitgenossen dennoch mit einem großem Maß an Liebe betrachtete.

Trotz ihrer Krankheit - oder vielleicht gerade wegen ihrer Krankheit - spürte sie, was im Leben zählte und fragte, was wirklich wichtig ist. Sie nahm die Tiefe in Beziehungen wahr, hatte feine Antennen dafür, ob ein Mensch das, was er sagte, auch wirklich meinte und verkörperte.

Sie brannte für soziale Themen, ereiferte sich über Ungerechtigkeiten und wollte sich gerne in einem Indienprojekt engagieren. Vieles in unserer Gesellschaft sah sie kritisch. Einmal schrieb sie mir: „...mehr als meine Bulimie kotzt mich unser Konsumverhalten und Materialdenken an: Ich brauche das und das, wenn ich es erst habe, dann... und wie ich wieder aussehe... Darum geht es doch gar nicht am Ende. Die Frage sollte doch viel besser lauten: Was brauche ich zur Findung meiner inneren Ruhe, Zufriedenheit und zum vollkommenen Glauben an Gott?“

 

Wieviel ihr dieser Glaube bedeutete, macht eine andere Passage aus einem ihrer Briefe deutlich. Es ist ein Text, der ganz besonders unter die Haut geht:

„Heute ist der 13.September. Vor genau 2 Jahren war mein misslungener Suizidversuch - ich habe damals wirklich alles getan um zu sterben. 4 Tage war ich „tot“ und nun steh ich dennoch hier.

Gott hat mich gerettet. Die Zeit seitdem war zwar nur mit Krisen durchzogen, aber an diesem Tag - gedenke ich Gott - er hat mich nicht aufgegeben.

An dem Tag war ich Gott ganz nah, aber er hat meine damalige Bitte nicht erfüllt und mich zurück auf die Erde geschickt.

Ich red da mit keinem drüber, aber der Tag ist mir schon... naja wichtig wäre das falsche Wort.

Es ist der Tag, an dem ich Gottes große Liebe erfuhr - auch wenn ich das zu dem Zeitpunkt nicht begriff. Jetzt weiß ich es einfach - gedenke diesen Tag und danke.....“

Und noch ein Briefauszug:

„Gott hat dich geschickt... ganz sicher... durch dich ist Er wieder in mein Leben getreten und zum wichtigsten Teil meines Lebens geworden. Dieser alt wiedergefundene Glaube, aus dem ich momentan unendlich Kraft schöpf'.“

 

Diesen Glauben wollte sie gerne leben und in soziales Engagement ummünzen. Prägend wurde für sie ein Kontakt mit der Heilsarmee. Sie hatte das Buch „Lieben, was das Zeug hält“ von Frank Heinrich gelesen, nun wollte sie diese „komische“ Armee selber kennenlernen. Sie fuhr zu einem Gottesdienst in Leipzig.

Sie schreibt:

„Morgen werde ich zur Heilsarmee fahren, ich freu mich schon darauf und bin wahnsinnig gespannt, wie es dort ist...

Ich fuhr eine ¾ Stunde mit dem Fahrrad. Ich habe mit einem Gemeinderaum mit vielen jungen Leuten gerechnet. Was ich fand war ein großes Schulgebäude und einen sehr kleinen Gemeinderaum mit nur knapp 20 Mann, aber ich fühlte mich sofort wohl - bekam dieses Gefühl von Gottes Anwesenheit und wurde in der Gebetsstunde willkommen geheißen und begrüßt.

Die Predigt ging um Liebe - die Liebe die ich, mir kommt es wie eine Ewigkeit vor, suche... Liebe wie Du sie mir zeigtest - Liebe die mir z.B. Mutti und vor allem Gott schenkt..., nicht die Liebe, die man mit wohlgeformten Frauen oder gar Sexualität verbindet.

Es war ein guter Bibeltext und ich hab seit langem der Predigt wieder folgen können.

Als ich auf mein Fahrrad stieg, zuvor noch zum Kaffee eingeladen wurde, merkte ich das ich meine Jacke verloren hatte auf den Weg dorthin. Trotzdem es meine Lieblingsjacke war, fühlte ich wieder vollkommenes Glück – Freude - ja sogar Liebe.

Mit einem fetten Grinsen fuhr ich langsam und die Sonne und Wärme genießend wieder zurück.“

 

Wie könnte man Lebensfreude besser beschreiben? Sonne genießen, und ein „fettes Grinsen“ auf dem Gesicht.

Josi war krank, doch sie hatte diese Freude. Sie wollte leben. Sie wollte spüren und fühlen. Sie wollte lieben. Sie wollte die Welt verändern. Sie war eine Siebzehnjährige voller Tiefe und Hoffnung. Doch ihre Krankheit war stärker. Durch eine Verkettung unglücklicher Umstände fand ihr Leben ein viel zu frühes Ende. Das tut weh. Sehr, sehr weh.

 

Durch alle Schmerzen hindurch lässt sich aber etwas erkennen. Mit jedem Tag Abstand  wird es deutlicher. Dieses kurze Leben hat eine Botschaft für die anderen. Für die Lebenden. Für uns. 

Josis Leben erinnert uns „Gesunde“ daran, unser Leben nicht oberflächlich zu vergeuden, sondern es mit Leidenschaft und Herzblut zu leben. Zu genießen. Zu lieben. Es erinnert daran, auch an die Menschen zu denken, die unsere Liebe, unsere Hilfe und unsere Hoffnung brauchen. An die Menschen in Afrika und Indien – und an die Menschen hinter der Haustür im Nebenhaus. Auch - und gerade! - die „komischen“ Menschen: die Kranken, die Einsamen, die Verwirrten, die Alten - sie brauchen uns.

Josis Eltern baten bei der Trauerfeier um Spenden für ein Kinderheim in Indien. Und sie unterstützen ein Begegnungscafé für junge Menschen in Gera. Bei aller Trauer – sie wollen das „Erbe“ ihrer Tochter weitergeben.

 

Und dann noch etwas: Josis Briefe zeigen, dass Gott noch in den tiefsten Tiefen eines Lebens erfahrbar ist. Josis Glauben lässt mich hoffen. Im Leben, im Sterben und noch weit über ihren Tod hinaus.

Die Sonnenblume am Ausgang, die Josis Mutter mir persönlich in die Hand drückt, spricht eine klare Sprache:

Es ist ein trauriger Tag. Aber es ist kein hoffnungsloser Tag...

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